Todesfälle im Corona-Jahr 2020: Kein Grund zur Panik
von Susan Bonath
Man müsse die Gefährlichkeit des Coronavirus an der Sterblichkeit festmachen, forderten Kritiker der Maßnahmen – darunter auch Fachleute – schon zu Beginn der Pandemie. Nun liegen die vorläufigen Sterbezahlen des Statistischen Bundesamtes (StBA) vor. Sie scheinen wiederum die Kritiker der Kritiker bestätigen. Denn demnach starben 2020 rund 48.100 mehr Menschen als im Durchschnitt der vier Vorjahre, insgesamt nach bisherigen Daten rund 982.500. Viele Medien berichteten von einer Übersterblichkeit von über fünf Prozent. Die Zahl 48.100 entspreche auch der ungefähren Anzahl der von März bis Dezember gemeldeten an oder mit COVID-19 Verstorbenen. Alles scheint also plausibel. Doch so einfach ist das nicht. Selbst das StBA hält sich mit der Verwendung des Begriffs “Übersterblichkeit” zurück.
“Beängstigende” blanke Zahlen
Zunächst bleibt festzuhalten: Die reinen Zahlen stimmen. Addiert man die Sterbefälle der vier Jahre vor 2020 und teilt die Zahl durch vier, erhält man eine durchschnittliche Fallzahl von 934.400 pro Jahr bis 2019. Für das abgelaufene Jahr 2020 kommt das StBA – ohne möglicherweise zu erwartende Nachmeldungen – auf knapp 982.500 Tote. Das ergibt eine Differenz von 48.100 oder eben gut fünf Prozent.
Richtig ist auch, dass die Zahl der Todesfälle in den beiden letzten Monaten gegenüber einer eher geringen Sterblichkeit in den Sommermonaten auffällig stark zugenommen hat. So starben im zurückliegenden November in Deutschland rund 85.500 Menschen. Das waren 9.200 Todesfälle mehr als im Mittel der vier Vorjahre. Noch drastischer schlug der Dezember mit bisher gemeldeten rund 106.600 Toten zu Buche. Das waren sogar 24.000 Verstorbene mehr als im Durchschnitt der vier Vorjahre. Allerdings waren das zugleich auch noch immer rund 500 Tote weniger als während der letzten schweren Grippewelle im März 2018.
Die höhere Sterblichkeit in einigen Monaten des zurückliegenden Jahres, bezogen auf das Vierjahresmittel davor, betont auch das Statistische Bundesamt in seiner Pressemitteilung vom 29. Januar. So habe die Sterblichkeit im April um zehn Prozent höher als im Mittel zuvor gelegen, was mit der ersten Corona-Welle zu tun gehabt hätte. Im August und September seien sieben beziehungsweise sechs Prozent mehr Menschen gestorben, was allerdings an einer Hitzewelle gelegen habe. Das Problem ist aber: Auch in den meisten Vorjahren gab es Hitzewellen, allerdings oft schon früher im jeweiligen Jahr, so dass die sich daher nicht so am Sommerende niederschlugen.
Im November habe es dann zwölf Prozent, im Dezember sogar 29 Prozent mehr Tote gegeben als im Mittel der Jahre 2016 bis 2019. So steigt denn auch die Kurve in der graphischen Darstellung zum Jahresende weit über die Kurve des Durchschnittswertes an. Für viele Medien war die blanken Zahlen der Aufreger des Tages, für die Befürworter harter Lockdown-Maßnahmen ein “gefundenes Fressen”.
Sprunghafter Anstieg der Bevölkerungsgruppe 80 plus
Das Problem an der Sache ist dennoch schlicht: Diese Zahlen sind so einfach nicht vergleichbar. Und verschwiegen werden auch Relationen innerhalb der Gruppen. Die Zunahme an Todesfällen unlängst betrifft zum Beispiel ausnahmslos die Gruppe der über 80-Jährigen, während in der Gruppe der unter 80-jährigen weniger Menschen als im Mittel der vier Vorjahre starben. Darauf wird später noch näher eingegangen werden.
Der Anstieg an sich war jedoch zu erwarten. Denn zum Ende des Jahres 2019 lebten fast eine Million über 80-Jährige mehr in Deutschland, als zum Ende des Jahres 2015. Das ist ein Anstieg um fast 20 Prozent von rund 4,73 auf 5,68 Millionen Menschen. Allein von Ende 2017 bis Ende 2019 wuchs die Zahl der Senioren in Deutschland um mehr als eine halbe Million, wie aus diesen Quellen hervorgeht. Diese Werte vom Ende des jeweiligen Vorjahres beziffern dabei die Populationsgröße, von welcher für das jeweils folgende Jahr ausgegangen werden muss.
Zuwachs an Todesfällen geringer als zu erwarten gewesen wäre?
Entsprechend nahmen seither stets – statistisch wenig verwunderlich – die jährlichen Todesfälle in dieser höchsten Altersgruppe zu. So starben laut StBA 2016 rund 493.200 über 80-Jährige. Das waren 10,43 Prozent der Ende 2015 in der Bundesrepublik lebenden Senioren. 2017 gab es in dieser Altersgruppe demnach rund 517.800 Tote, was einer noch etwas höheren Sterberate von 10,48 Prozent entspricht. Im Jahr 2018 starben mit rund 536.800 Menschen dann wieder 10,43 Prozent der Betagten. Im Jahr vor Corona, 2019, registrierte das StBA schließlich 535.500 Tote, die älter als 80 wurden. Die Sterberate lag mit 9,94 Prozent aufs Jahr bezogen also sogar etwas niedriger als in den Jahren zuvor.
Im Mittel verstarben 2016 bis 2019 demnach jährlich etwa 10,3 Prozent all jener in Deutschland lebenden Menschen, die über 80 Jahre alt waren. Der Logik der Statistikbehörde folgend, gab es im Durchschnitt von 2016 bis 2019 also jährlich 521.000 über 80-jährige Tote.
Man könnte nun behaupten: In der Altersgruppe 80 plus habe es 2020 mit 576.650 Toten eine Übersterblichkeit von rund 55.650 Fällen gegenüber dem Mittel der vier Vorjahre gegeben. Statistisch ist das aber falsch. Eine Vergleichsgröße bietet eher die errechnete Sterberate, die man später noch um die jährlich leicht steigende Lebenserwartung bereinigen könnte.
Sterberate in Bezug auf die Altersgruppe ist nicht gestiegen
Wenn – wie im vorhergehenden Absatz ermittelt – rund 10,3 Prozent der Senioren über 80 Jahr für Jahr aus dem Leben scheiden und diese Population seit 2016 um etwa 950.000 Personen angewachsen ist, wären 2020 etwa 98.000 mehr Todesfälle in der Gruppe der 80-Jährigen zu erwarten gewesen, verglichen mit dem Jahr 2016. Das entspräche mit knapp 20 Prozent jener starken Zunahme dieser Bevölkerungsgruppe. Tatsächlich verzeichnet das StBA eine geringere Steigerung um rund 17 Prozent, also rund 83.500 Sterbefälle (die durch Nachmeldungen noch etwas ansteigen könnten).
Die Sterberate in Bezug auf die vorhandene Population betrug mit Blick auf das gesamte Jahr 2020 somit etwa 10,15 Prozent. Sie lag damit zwar um 0,21 Prozentpunkte über der Sterberate von 2019, aber um 0,28 beziehungsweise 0,33 Prozentpunkte unterhalb der Rate der Jahre 2016 bis 2018. Und sie unterbot die aus den vier Werten von 2016 bis 2019 ermittelte durchschnittliche Sterberate um 0,15 Prozent.
Weniger Sterbefälle bei unter 80-Jährigen als im Mittel der Vorjahre
Da die aus den StBA-Werten hervorgehende vermeintliche “Übersterblichkeit” insgesamt und aufs Jahr gesehen mit rund 48.100 Todesfällen zu Buche schlägt, bei den über 80-Jährigen, diesem Vergleich mit dem Mittelwert der vier Vorjahre folgend, aber bereits mit 55.650 mehr Fällen darüber liegt, muss sich diese Diskrepanz bei den Jüngeren ausgleichen. Und das ist auch so:
So verzeichnete die Behörde bei allen Altersgruppen bis unter 80 zusammen gefasst im Jahr 2016 insgesamt 417.739, in den drei Jahren darauf jeweils 414.455, 417.979 und 404.056 Todesfälle. Durchschnittlich starben in diesem Zeitraum insgesamt pro Jahr also etwa 413.600 Menschen.
Für das vergangene “Corona-Jahr” meldete das Amt 405.843 Todesfälle bei unter 80-Jährigen. Das sind war knapp 1.800 Fälle mehr als 2019, aber auch rund 11.900 weniger als 2016, gut 9.100 weniger als 2017 und über 12.100 Tote unter den null bis 79-Jährigen weniger als im Grippejahr 2018. Dem unter Statistikern beliebten Vergleich mit den Durchschnittswerten der vier Vorjahre folgend gab es also in der Gruppe der unter 80-Jährigen auch 7.800 weniger Tote als der genannte Mittelwert von 413.600 Fällen erwarten ließe.
Anders als die jährlich stetig größer werdende Anzahl der über 80-Jährigen kann ein solcher Mittelwert bei den Jüngeren eher herangezogen werden. Denn die Größe der Gruppe der Jüngeren bis 79 Jahre war über die Jahre nur sehr geringen Schwankungen unterworfen. 2016 umfasste sie den Statistik-Daten zufolge rund 77,45 Millionen und 2020 rund 77,49 Millionen Menschen in Deutschland. In der Gesamtübersicht ist sie also ganz leicht nur gestiegen, während die Sterberate von 0,54 auf 0,52 Prozent im vergangenen Jahr leicht gesunken ist.
Irreführung? Statistiker betonen “Übersterblichkeit” in einzelnen Wochen und Monaten
Im Vergleich zur Population kann also selbst bei den sehr betagten Menschen nicht von einer höheren Sterblichkeit als gewöhnlich ausgegangen werden. Tatsächlich liegt – zumindest nach bisherigen Zahlen – diese Sterberate von 10,15 Prozent unter dem Mittel der vier Vorjahre von etwa 10,3 Prozent.
Mit Blick auf das Gesamtjahr 2020 wollte Felix zur Nieden, Sprecher des Statistischen Bundesamtes, auf Anfrage der Autorin dann auch gar nicht von einer Übersterblichkeit reden. Stattdessen sprach er von “Phasen der Übersterblichkeit”, die es allerdings in allen Jahren gibt, wenn auch meist nicht so markant wie 2020. Im Sommer seien die leicht vermehrten Todesfälle der Hitzewelle zuzuschreiben, im Frühjahr und zum Jahresende korrelierten sie aber mit den gemeldeten mit oder an Corona Verstorbenen, so sagte zur Nieden.
Diese explizite Betonung von “Übersterblichkeiten” in einzelnen Monaten oder auch nur Wochen könnte jedoch die Wahrnehmung verzerren, auch bei den verantwortlichen Politikern. Denn nicht zuletzt von diesen Zahlen lassen sich ja schließlich die Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU) und alle Ministerpräsidenten der Bundesländer bezüglich der fortgesetzten Einschränkungen von Grundrechten für die Bevölkerung leiten. Und die Bevölkerung könnte aufgrund der Zahlen auch eher bereit sein, dies hinzunehmen.
Doch eine Übersterblichkeit wegen steigender Lebenserwartung?
Der StBA-Sprecher führte aber zudem auch noch die steigende Lebenserwartung ins Feld, die außer der demografischen – also der Altersentwicklung – mit in eine Gesamtauswertung einfließen werde. Die könne seine Behörde aber erst im Sommer veröffentlichen. Wörtlich sagte zur Nieden: “Gegenläufig zum Altersstruktur-Effekt gibt es auch einen Trend zu einer steigenden Lebenserwartung.” Damit würden allerdings auch die zu erwartenden “Sterbewahrscheinlichkeiten sinken”, so zur Nieden.
Allerdings scheint das Ansteigen der Lebenserwartung inzwischen mehr oder weniger an Grenzen zu stoßen. Auch das zeigen die Werte der Statistik-Bundesbehörde, die allerdings aktuell erst bis zum Jahr 2018 publiziert vorliegen.
Demnach stieg das durchschnittliche Sterbealter der Menschen nach dem zweiten Weltkrieg stark an. Im Jahr 1960 betrug es, zusammengefasst für beide Geschlechter, noch knapp 65,7. Zehn Jahre später wurden die Menschen im Mittel 68,9 Jahre alt. Das war ein Zuwachs von mehr als drei Lebensjahren in zehn Jahren, was Jahr für Jahr knapp vier weiteren Lebensmonaten Verlängerung der individuellen Lebenserwartung entsprach.
Von 1970 bis 1980 verzeichnete das Amt einen Anstieg des Sterbealters von rund 68,9 Jahren auf 71,8 Jahre – nochmals ein Zuwachs um 2,9 Lebensjahre binnen jener Dekade. Das entsprach rund 3,5 Lebensmonaten mehr pro Jahr. In der darauffolgenden Dekade wurden die Menschen im Schnitt jedes Jahr nochmals um 2,6 Monate älter, von 1990 bis zur Jahrtausendwende wuchs die Lebenserwartung jedes Jahr nochmals um durchschnittlich 1,8 Monate.
In der ersten Dekade wurden Männer und Frauen zusammengefasst rund 2,4 Monate pro Jahr älter, bis 2015 hielt dieser Trend an. Seit 2015 flacht die Kurve allerdings merklich ab, der Zugewinn von 2015 bis ins Jahr 2018 beträgt insgesamt nur noch ein knappes halbes Lebensjahr. Von 2017 bis 2018 verzeichneten die Statistiker einen durchschnittlichen Zuwachs an 1,4 Lebensmonaten pro Jahr. Diesem Trend optimistisch folgend, dürfte das mittlere Sterbealter im Jahr 2020 um etwa drei Monate höher als 2018, also bei knapp 79,2 Lebensjahren gelegen haben, geschlechtsspezifisch differenziert für Frauen demnach bei rund 82,2 und für Männer bei 76,1 Jahren.
Der Effekt der immer langsamer wachsenden Lebenserwartung dürfte sich in der heutigen Zeit also nur noch eher gering auswirken auf die Berechnung einer etwaigen Übersterblichkeit im abgelaufenen Jahr. Ohne diese steigende Lebenserwartung ist – wie zu sehen war – eine solche Übersterblichkeit für das Gesamtjahr 2020 jedenfalls bisher nicht festzustellen. Und genauso wenig können die Befürworter der derzeitigen Politik belegen, ob dafür die ergriffenen Maßnahmen wie Lockdowns und Massenquarantänen verantwortlich waren. Denn dazu gibt es schlicht keinerlei wissenschaftliche Studien.
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