Moskauer Freiheit – Ein Reisebericht in Zeiten der Pandemie — RT DE
Vor sechs Jahren veröffentlichte ich auf meinem Blog einen ersten Reisebericht über Russland. Ich bin damals aus Neugier nach Russland geflogen, um herauszufinden, ob die im Westen verbreitete Nachricht stimmt, in Russland würden homosexuelle Männer verfolgt und ermordet. Es herrsche ein Klima der Angst, wurde geschrieben, denn die Regierung Putins würde aktiv Übergriffe auf Homosexuelle fördern. Natürlich stimmte das alles nicht und ist auch heute kein Stück wahrer geworden. Im Gegenteil, man kann als Schwuler in Russland gut leben. Das Gerücht hält sich dennoch, denn es gibt kaum zuverlässige Berichte über Russland in den deutschen Medien. Auch daran hat sich nichts geändert.
Ich war damals überrascht von der Lebendigkeit der queeren Szene in Moskau und der dort herrschenden Freiheit. Es entsprach in keiner Weise dem, was in deutschen Medien über Russland berichtet wurde. Aus diesem ersten Bericht entstand meine Zusammenarbeit mit RT. Seitdem besuche ich Russland, wann immer sich die Möglichkeit ergibt. Meine Aufenthalte wurden häufiger und länger. Meinen ersten Eindruck, Russland sei insgesamt ein freies Land, in dem die sozioökonomischen Indikatoren in die richtige Richtung weisen, musste ich nie revidieren. Russland schien mir wie der Gegenentwurf zur EU, die mit zunehmendem Verfallserscheinungen zu kämpfen hat.
Natürlich zog ich mir damit den Vorwurf zu, Propaganda zu betreiben, denn ebenso hartnäckig wie sich das Gerücht hält, in Russland würden Schwule unterdrückt, hält sich das Gerücht, in Deutschland gäbe es intakten Journalismus, der neutral berichtet. Beides ist falsch. Seit meiner ersten Reise nennt man mich einen Propagandisten, ein Werkzeug Putins. Der Vorwurf kommt meist aus der Ecke des Mainstreams. Eine inhaltliche Diskussion ist bislang unterblieben.
Dann kam Corona – die umfassende, weltweite Zäsur. Über ein Jahr war ich nicht in Russland. Jetzt hatte ich wieder die Möglichkeit. Ich war neugierig, wie Russland mit der Pandemie umgeht, wie es sich lebt, welche Einschränkungen es gibt. Um es vorweg zu nehmen: Es ist, als würde man in eine andere, freiere Welt reisen. Der Lockdown hält Deutschland fest im Griff, ein großer Teil der Nachrichten dreht sich um Inzidenzen, Verbote und Reglementierungen. Es gibt Ausgangssperren, umfassende Schließungen, Demonstrationen gegen die Maßnahmen und Demonstrationen, die gegen die Maßnahmen-Gegner protestieren.
Die Corona-Krise hat Deutschland tief gespalten. In Gesprächen kommt man nahezu unweigerlich darauf, wie man es hält mit dem Impfen, wie man zur Maske steht, zu den Maßnahmen, ob man nicht für Lockerungen oder nicht doch für noch weitere Einschränkungen eintritt, um danach ein höheres Maß an Freiheit genießen zu können.
Von hier aus, von Russland aus wirkt das alles bizarr – Deutschland, ein Narrenschiff. In Moskau ist alles geöffnet, die Pandemie gilt als überwunden, die Maßnahmen wurden nach einem ersten, harten Lockdown im April 2020 nach und nach zurückgefahren und nie wieder verschärft. Die Infektionszahlen stiegen im Herbst an und fallen seit einigen Monaten ab. Die Inzidenz liegt aktuell bei etwas über 40.
Es ist der 1. Mai. Das Wetter ist schön, der Himmel über Moskau strahlend blau, die Sonne scheint, es ist frühlingshaft warm. Wir fahren Richtung Innenstadt, um einen Stadtbummel zu unternehmen. In der Metro auf dem Weg dorthin tragen einige Masken, andere nicht, niemand stört sich daran. Ich denke an Szenen, die ich in Berlin erlebt habe, wie Leute andere giftig Anraunzen, weil die Maske vergessen oder nicht richtig getragen wurde. Ich erinnere mich, wie eine Frau einen Fahrgast in der U-Bahn einen Massenmörder nennt. Als würde einmal unbeschwert Atmen den Tod von tausenden nach sich ziehen. Mit etwas Abstand wirkt Deutschland völlig überdreht und hysterisch.
Offiziell gilt auch in Moskau noch Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr und auch Handschuhe sind vorgeschrieben. Insbesondere an die Pflicht zum Tragen von Handschuhen hält sich praktisch niemand mehr. Masken bedecken bei Einigen Mund und Nase, bei anderen nur den Mund, bei dritten hängt sie unter dem Kinn und vielfach fehlt sie ganz. Anlass zum Streit bietet das nicht.
Der Kreml und der nahe gelegene, 2016 eröffnete Park Sarjadje im Zentrum sind gut besucht. Ganz Moskau scheint auf den Beinen zu sein. Vor dem Kreml wird für Gruppen-Exkursionen geworben, Geschäfte und Läden haben geöffnet. Viele Moskauer nutzen den Feiertag zum Shopping. Mit Deutschland verglichen herrscht eine unglaublich leichte, zwanglose, freie Atmosphäre.
Wer möchte, kann sich impfen lassen. In den großen Einkaufszentren gibt es die Möglichkeit, das unkompliziert zu tun. Man braucht etwa eine Stunde Zeit. Etwa fünf Prozent der Russen haben bereits beide, acht Prozent die erste Impfung erhalten. Das erscheint wenig. Doch die Inzidenz geht seit Monaten zurück. Es wird vermutlich eine ganze Generation an Historikern, Epidemiologen und Soziologen beschäftigen, welche Maßnahmen in welchen Ländern aus welchen Gründen zu welchem Ergebnis geführt haben und welche lediglich die Freiheit eingeschränkt haben.
Es muss mit Sicherheit zunächst eine vergleichbare Datengrundlage geschaffen werden, denn selbst mir als absoluter Laie in Bezug auf Statistik ist klar, dass in Deutschland eigentlich nur ein großer Datensalat produziert wird, dem es aufgrund mangelnder Standardisierung an jeder Möglichkeit zum wissenschaftlichen Vergleich fehlt. Ein bloß rigoroser Lockdown jedenfalls scheint nicht die Lösung zu sein, ein bloß halber, dafür ganz langer allerdings auch nicht.
Russland hat in der ersten Welle einen harten Lockdown praktiziert. Die Belastung war enorm, der Erfolg mäßig. Trotz rigoroser Ausgangssperre stiegen die Infektionszahlen an, um dann im Sommer plötzlich zu sinken. Auch in der EU haben die Länder ganz unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, das Virus schien sich davon nur mäßig beeindrucken zu lassen, denn der Verlauf war in allen Ländern der EU ähnlich. Es gab eine erste Welle, ein Abflauen im Sommer, einen Wiederanstieg im Herbst und schließlich die sogenannte dritte Welle, wobei unklar bleibt, ob die dritte Welle nicht nur herbei getestet wurde.
Wir überlegen, ein Bier zu trinken. In der Nähe ist ein Restaurant, ich öffne die Tür. Das Restaurant ist gut besucht, es gibt keine besonderen Maßnahmen, außer dass die Angestellten Masken und Handschuhe tragen. Wir bekommen lediglich Plätze an der Bar. Alle Tische sind belegt. In diesen Tagen wirkt Russland wie der freiheitliche Gegenentwurf zur EU und zu Deutschland, wo die Bürger in ihren Grundrechten massiv beschnitten werden.
Dabei ist diese Reduktion auf ein lediglich funktionierendes Objekt in einem ökonomischen Ablauf – auf Arbeit und die Wiederherstellung der Arbeitskraft in Isolation – für die die deutschen Maßnahmen stehen, psychisch enorm belastend und insgesamt ungesund. Alles Soziale ist in Deutschland seit über einem Jahr eingeschränkt und fällt seit November nahezu komplett aus. Begleitet wird das von einer Berichterstattung, welche die Maßnahmen nicht grundlegend in Zweifel zieht, dafür aber alle, die sie kritisieren, pauschal als Coronaleugner, Covidioten und Nazis verunglimpft.
Wer als Kritiker Gesicht zeigt, wird an den Pranger gestellt und öffentlich gerichtet. Eine tatsächliche Diskussion unterbleibt. Die deutschen Maßnahmen verachten das soziale Wesen des Menschen, die Medien spenden Applaus. Dabei haben die Einschränkungen auch nichts mit Solidarität gegenüber Risikogruppen zu tun. Menschen dauerhaft von einem zentralen Wesensmerkmal des Menschseins abzuschneiden und das mit dem Schutz der Risikogruppen zu begründen, ist eine politische Bankrotterklärung. Der Schutz der Risikogruppen ist die Aufgabe des Staates, die Gewährung von umfassender Freiheit für alle aber ebenso. Deutschland hat in dieser Hinsicht umfassend versagt.
Auch ökonomisch kommt Russland besser durch die Krise. Der Einbruch des BIP war geringer als in Deutschland, der Währungsunion und der EU. In der Moskauer Innenstadt gibt es Leerstand. Einige Läden sind geschlossen. Verglichen mit Berlin erscheint es unglaublich wenig. In diesem einem Jahr hat sich in Moskau viel getan. Straßen sind renoviert, ganze Viertel wurden verschönert, die Gegend um den Kiewer Bahnhof und der Metro-Station Studentscheskaja wurden geradezu malerisch und pittoresk.
Auch das ist eine Entwicklung, die gegenläufig zur Entwicklung in Deutschland steht. In Berlin werden Armut und Obdachlosigkeit immer stärker sichtbar. Während in Deutschland über Erleichterungen für einzelne Gruppen gesprochen wird, wird dieser Unterschied in Russland nicht gemacht. Restaurants, Bars, Theater, Museen sind für alle offen, nicht nur für Getestete und Geimpfte. Es gibt auch keine Pflicht zur Registrierung, keine QR-Codes, keine Listen. Auch gibt es keine Überlegung, einen Impfausweis einzuführen, mit dem man Privilegien genießt. Es gibt keine die Gesellschaft spaltenden Maßnahmen. Ich glaube, dies ist der zentrale Unterschied zwischen Deutschland und Russland.
Von hier aus erscheinen die Maßnahmen in Deutschland als absurd und in ihrer Rigorosität als unnötig die Freiheit einschränkend, zudem am Ziel vorbei, dafür aber für die Gesellschaft gefährlich. Sie spalten.
Auf der anderen Seite sind die Reaktionen auf diesen Beitrag schon jetzt absehbar. Man wird Russland Verantwortungslosigkeit vorwerfen, Betrug wittern, man wird leugnen, dass die Inzidenz in Russland sinkt. Wer nicht zu ganz harten Maßnahmen greift, wird sich nie aus der Pandemie befreien, ist ein fest verankerter Glaube in Deutschland. Das zeigt auch, wie verquer die Diskussion in Deutschland geführt wird.
Dort stehen die Vertreter von No-Covid jeder Lockerung skeptisch gegenüber. Den Diskurs dominiert die Frucht und die Angstmacherei, Freiheitsrechte sind hintenangestellt. Viel kreist um den Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis. Deutschland gibt sich aufgeklärt, bleibt aber gerade bei seinem Verständnis von Wissenschaft in der Voraufklärung stecken, denn die deutsche Diskussion begreift Wissenschaft nicht als Prozess, sondern als finale Erkenntnis, an der sich Gesellschaft auszurichten hat. Das ist ein Phantasma.
Dieser Idee wohnt ein Totalitarismus inne, der sich auch gesellschaftlich bemerkbar macht. Die No-Covid-Bewegung steht stellvertretend für diesen unwissenschaftlichen Zugang zur Wissenschaft. Dabei wäre all jenen, die nach noch umfassenderen Einschränkungen rufen und das mit vermeintlich gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis begründen, ein Blick nach Russland empfohlen. Es geht offensichtlich auch anders.
Der Prozess der Öffnung war in Russland tastend. Es gab lange noch Ausgangssperren für Ältere, um sie zu schützen. Es gab Einschränkungen in der Benutzung des ÖPNV und vieles mehr. Es wurden alle Einschränkungen zurückgefahren. Aktuell verharren die Neuinfektionen auf niedrigem Niveau. Es gibt Forderungen, angesichts der nicht weiter fallenden Inzidenz einige Maßnahmen wieder zu verstärken. Bisher wurde dem eine Absage erteilt – Freiheit ist ein hohes Gut.
Ein Blick nach Russland sei daher auch jenen empfohlen, die nicht müde werden, in Russland einen autoritären Staat zu sehen, der die Freiheit seiner Bürger unterdrückt, und die meinen, der Westen sei mit seinen Werten Russland weit überlegen.
In der Corona-Krise konnte Russland den angeblich herrschenden Wettbewerb der Systeme für sich entscheiden. Aktuell ist die Freiheit in Russland deutlich umfassender und tiefer ausgeprägt als in jedem Land der EU. Man wird mir vorwerfen, das sei Propaganda. Aber es lässt sich überprüfen. Dieses Mehr an Freiheit gibt es dabei auf mehreren Ebenen, denn auch die Zensurmaßnahmen, die bei uns zur Einschränkung und Löschung von Kanälen in den sozialen Netzwerken geführt haben, weil sie vermeintlich unwissenschaftliche Thesen verbreiten, gibt es in Russland in dieser Form nicht. Die Pandemie hat nicht zu einer so fundamentalen Spaltung der Gesellschaft geführt, wie in Deutschland.
Die russischen Nachrichten zeigen Bilder von Demonstrationen in Berlin, in Belgien und Frankreich. Es werden prügelnde Polizisten gezeigt und Steine werfende Demonstranten. Es entsteht das Bild einer zerfallenden Europäischen Union, die nur noch mit Gewalt zusammengehalten wird. Es ist das Gegenteil der Erzählung der EU über sich selbst.
Von hier aus erscheint die EU als autoritär und die Freiheit ihrer Bürger unterdrückend. Ich weiß, ich setzte mich damit dem Vorwurf aus, Propaganda zu betreiben, aber es sollte dennoch gehört werden. Es gibt in Russland keine derart massiv einschneidenden Maßnahmen wie es sie in der EU gibt. Entsprechend gibt es auch keine Proteste dagegen. Die aktuellen Maßnahmen in Russland umfassen vor allem Reiseeinschränkungen ins Ausland. Zu den Maifeiertagen wurden die Grenzen in Richtung EU nicht geöffnet, die Türkei fällt für Russen als Reiseland aktuell aus. Im Gegenzug wird der Inlandstourismus gefördert.
Es wird Abend, wir überlegen, was wir noch unternehmen könnten und entscheiden uns für die Monobar, einen queeren Club im Zentrum Moskaus. Der Club ist gut gefüllt, Menschen umarmen sich, küssen sich. Wir tanzen im Mai. Es fühlt sich frei, unbeschwert und leicht an. An dieser Freiheit und Leichtigkeit fehlt es in Deutschland.
Es war eine gute Entscheidung, vor über sechs Jahren nach Russland zu reisen und es seitdem immer wieder zu tun. Ich bekomme mit jedem neuen Aufenthalt immer detaillierten Zugang zu Russland, aber mehr noch erfahre ich darüber, wie wir in Deutschland leben. Es erscheint falsch.
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