Maxim Litwinow – Vorreiter fأ¼r eine internationale Friedensordnung als System kollektiver Sicherheit — RT DE
Maxim Litwinow war als Auأںenminister der Sowjetunion fأ¼r neun Jahre der Nachfolger von Georgi Tschitscherin und der Vorgأ¤nger von Wjatscheslaw Molotow. Er ist jedoch heute, ebenso wie sein Vorgأ¤nger, im Gegensatz zu Molotow auأںerhalb der Expertenkreise weitgehend unbekannt – sehr zu Unrecht.
von Veit Friemert
Bekannter als Maxim Litwinow ist sein Nachfolger Molotow, dessen Name heute in einen Atemzug mit dem des damaligen deutschen Außenministers Ribbentrop genannt wird und der gleichsam für die angebliche Ursünde des Kriegsausbruchs 1939 steht. Zugleich soll uns das über die damaligen Ereignisse hinaus darüber belehren, was als Erbe der Sowjetunion (SU) und Konsequenz ihres weltpolitischen Handelns zu gelten hat. Die Erinnerung an das politische Wirken Litwinows mag dieses Bild korrigieren. Der Jahrestag seines Todes gibt die Gelegenheit, dies zu tun.
Meir Henoch Wallach wird 1876 im damals zum Russischen Kaiserreich gehörenden polnischen Biaإ‚ystok in eine liberal gesinnte jüdisch-litauische Kaufmannsfamilie hineingeboren. Frühzeitig politisch interessiert, radikalisiert ihn der Militärdienst in der zaristischen Armee, den er im Alter von 17 Jahren antritt. Nach seiner Entlassung – er hatte sich geweigert, in Baku auf demonstrierende Arbeiter zu schießen – engagiert er sich in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). Er wird verhaftet, kann aus dem Gefängnis fliehen und geht ins westeuropäische Exil, in dem er den Großteil der Zeit bis zur Oktoberrevolution bleiben wird. In London begegnet er den drei Personen, die sein politisches Leben nach der Revolution prägen werden: 1903 trifft er Lenin im Lesesaal der British Library, 1907 auf dem 5. Parteitag der SDAPR Stalin und schließlich Tschitscherin – nach dessen Übersiedlung 1914 aus Frankreich nach London –, der damals den Menschewiki zugehörig ist. Litwinow (so lautet nun sein Kampfname) organisiert Waffen für die russischen Revolutionäre, vertreibt Revolutionsliteratur, vor allem aber nimmt er regen Anteil an den Diskussionen russischer und europäischer linker Exilanten in Westeuropa. Lenin folgend und in Übereinstimmung mit Tschitscherin kritisiert er im Ersten Weltkrieg das Engagement sozialdemokratischer Parteien Europas auf Seiten ihrer kriegführenden Länder und fordert einen pazifistischen Internationalismus.
Mit der Oktoberrevolution wird Litwinow kurzzeitig amtierender russischer Botschafter in Großbritannien. Wenig später erfolgt die Entlassung Tschitscherins durch die britische Regierung, die ihn wegen pazifistischer Propaganda festgesetzt hatte. Dessen Freilassung setzt die neue, bolschewistische Regierung als gegenseitigen Gefangenenaustausch durch. Tschitscherin wird Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Litwinow folgt ihm ins Kommissariat, ab 1923 als dessen Stellvertreter. Beide stehen dem proletarischen Internationalismus und der Komintern distanziert gegenüber.
Die Arbeit Tschitscherins, der der jungen Sowjetunion mit enormem Fleiß, Geschick und taktischem Gespür Wege in die internationale Politik ebnet und damit auch zur innenpolitischen Konsolidierung beiträgt, wird gegen Ende der 1920er Jahre krankheitsbedingt zunehmend von Litwinow übernommen. Der vollzieht bereits 1929 mit dem sogenannten Litwinow-Protokoll eine Abkehr von Tschitscherins Politik, der US-amerikanischen Friedensproklamationen wie auch dem Völkerbund misstraute: Das Protokoll versteht Litwinow ausdrücklich als Erweiterung des Briand-Kellogg-Pakts (des Pariser Vertrags), einer Initiative amerikanisch-französischer Diplomatie, die über den Völkerbund völkerrechtliche Verbindlichkeit beansprucht. Im Jahre 1935 erfolgt der Abschluss von Beistandsverträgen der Sowjetunion mit Frankreich und der Tschechoslowakei. Der Vertrag mit der Tschechoslowakei wird 1938 durch das Münchner Abkommen hinfällig, der mit Frankreich scheitert unmittelbar vor Kriegsbeginn 1939 durch das Misslingen seiner Überführung in ein militärisches Dreierbündnis mit Großbritannien. Bereits im Mai des Jahres war Litwinow von Stalin durch Molotow ersetzt worden. Den Verlust seines Amtes erlebt er als existenzielle Bedrohung, bleibt von den Säuberungen aber verschont. Mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion wird er sowjetischer Botschafter in den Vereinigten Staaten (bis 1943) und zugleich stellvertretender Außenminister. 1946 scheidet er endgültig aus dem Amt.
Worin liegen seine Verdienste, worin besteht deren Aktualität? Mit dem Litwinow-Protokoll konnte die sowjetische Diplomatie einen Prestigegewinn reklamieren, weil es nämlich gelang, Polen, Estland, Lettland und Rumänien sowie die Türkei und Litauen zur Forderung zu bewegen, den Briand-Kellogg-Pakt von Paris (also den Ausschluss des Krieges als Mittel politischer Auseinandersetzung) für Osteuropa umzusetzen. Strategisches Ziel dieser Politik war die Verhinderung einer Einkreisung der Sowjetunion und damit verbunden der Abkopplung von Europa – oder vielmehr die Verhinderung ihrer Zerstörung. Darüber hinaus diente das Protokoll der Sowjetunion als einer jener Regionalpakte, mit denen die Satzung des Völkerbunds vor Ort ergänzt werden sollte. Auf dieses Erfordernis hatte Litwinow mehrfach in Reden vor dem Völkerbund verwiesen, ebenso darauf, dass diesen Pakten ein Sanktionspotential zukommen müsse. Ziel war die Etablierung eines Systems kollektiver Sicherheit – also nicht die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, sondern die Verhinderung von Aggressionen.
Die diplomatischen Aktivitäten der SU im Vorfeld und Umkreis des Münchner Abkommens lassen sich als Versuch der Umsetzung dieser sicherheitspolitischen Vorstellungen Litwinows verstehen. Dessen Scheitern wirft ein Schlaglicht auf die damalige Kooperationsbereitschaft des Westens, stellt zugleich die tradierten Vorwürfe einer Kollaboration der SU mit dem aggressiven Nazi-Deutschland zu Kriegsbeginn infrage und lässt Lehren für die Gegenwart ziehen.
Die Beistandspakte der Sowjetunion mit Frankreich und der Tschechoslowakei (ؤŒSR) bildeten eine dreiseitige Verpflichtung, da bereits seit 1924 ein Beistandsabkommen zwischen Frankreich und der Tschechoslowakei bestand. Dieses sicherheitspolitische “Dreierbündnis” wurde 1938 dem ultimativen Belastungstest unterzogen. Es wäre geeignet gewesen, Hitler in den Arm zu fallen, als dieser begann, die Sudetenkrise zu dramatisieren, wozu ihn der “Anschluss” Österreichs überhaupt erst ermächtigt hatte. Die Tschechoslowakei akzeptierte den Beistand der Sowjetunion allerdings nur unter der Bedingung der gleichzeitigen Intervention Frankreichs, da sie befürchtete, ansonsten das jüngste Schicksal der spanischen Republik zu erleiden. Frankreich aber sagte ab, weil es für diesen Fall auf die Hilfe Englands, auf die Frankreich glaubte angewiesen zu sein, gar nicht zählen kann. Auf der anderen Seite verweigerte auch Polen den Durchmarsch sowjetischer Truppen, um der Tschechoslowakei zu Hilfe zu kommen. Das Ergebnis war das Münchner Abkommen (von dem Polen sogar profitierte). Frankreich “erfüllte” demnach also die Verpflichtungen gegenüber der ؤŒSR in der Weise des Vertragsbruchs.
Obwohl die Sowjetunion nun um den Wert des eigenen Beistandspakts mit Frankreich wusste, plädierte Litwinow noch im Frühjahr 1939 für eine Dreierkoalition mit Frankreich und England als der einzig verbliebenen Möglichkeit, Deutschlands anlaufende Kriegsmaschinerie zu stoppen. Am 3. Mai verlor Litwinow sein Amt. Mit seiner Ersetzung durch Molotow signalisierte Stalin der antisemitischen deutschen Führung Gesprächsbereitschaft, den Franzosen und Engländern aber auch die Entscheidung, nunmehr zweigleisig zu fahren. Er erhöhte ihnen gegenüber den Druck und verlangte detaillierte und bindende Absprachen über gemeinsame Militärmaßnahmen. Dass die britische und französische Delegation mit einem langsam fahrenden Handelsschiff statt mit dem Flugzeug anreisten und die britische Delegation überhaupt kein Verhandlungsmandat besaß, hatte primär den Sinn, Stalin nur im Gespräch und damit möglichst lange von einer Absprache mit Hitler abzuhalten. Eben diese Taktik führte zu dem, was sie eigentlich vermeiden sollte – und was man bis heute nicht müde wird, allein den Sowjets anzukreiden. Dass die Sowjets angesichts einer unmittelbaren Bedrohung durch die Deutschen deren Gesprächsangebot also hätten ignorieren sollen, ist dem britischen Historiker Jonathan Haslam zufolge schlicht unbegreiflich (simply inconceivable). Was folgte, ist bekannt.
Was also kann man heute noch von Litwinow lernen? Zunächst ist der bestehende Unterschied interessant – zwischen dem von ihm in der Tradition Tschitscherins vertretenen pazifistischen Internationalismus und der gegenwärtig vom Westen propagierten werteorientierten Pazifizierung. Letztere folgt der Doppelstrategie von Freihandel und Menschenrechten: Der Westen sanktioniert Widerstand durch moralische Verurteilung und Ausschluss vom internationalen Zahlungsverkehr, hingegen gratifiziert er Zustimmung durch massenmedialen Zuspruch und auch durch Kredite. Was die Doppelstrategie auslässt, worauf also scheinbar verzichtet wird, ist die machtpolitische Auseinandersetzung. Allein anhand des gigantischen US-amerikanischen Militärhaushalts von diesjährig über 750 Mrd. US-Dollar ist das angebliche Signal auf Machtverzicht unglaubwürdig. Das afghanische Fiasko wiederum beschämt nicht nur diese Kriegsmaschinerie, sondern macht auch den menschenrechtlichen Impetus des Einsatzes zu einer hilflosen Gebärde. Hingegen ist Litwinows Ansatz pragmatisch – gerade angesichts des hohen Gutes, den die Bewahrung des internationalen Friedens darstellt. Er verweist die Staaten auf das geltende, bestehende Völkerrecht und fordert sie auf, den Gegebenheiten entsprechend unprätentiös neue Vereinbarungen und Gesetze zu formulieren.
Litwinow hat das Sicherheitsinteresse seines Staates in einem System kollektiver Sicherheit bewahrt sehen wollen und klagte es zugleich gegenüber der Weltgemeinschaft ein. Letzteres musste er tun, weil die damals führenden Mächte dieses Interesse ignorierten, unter anderem, weil sie nicht wirklich bedachten, ob das nicht vielleicht doch in ihrem aufgeklärten Eigeninteresse liegen könnte. Denn ein Staat, dessen Sicherheitsinteresse permanent ignoriert wird, den man beständig aus- oder eingrenzt, wird zum Paria, was auch heißt, dass dessen Eigeninteresse irgendwann von anderen als rational nicht mehr erfahrbar wird. Für die Sowjetunion war dieses Datum der August 1939. Zwei Dreierkoalitionen waren da auf Kosten bestehender Staaten bereits gescheitert: Das Vertragsgebilde mit der Tschechoslowakei und Frankreich, womit Prag aus dem Spiel genommen wurde, und jene Vertragsabsicht mit Frankreich und Großbritannien, womit Paris aus dem Spiel war. Erst in der Dreierkoalition mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika, also auf Kosten eines zweiten Weltkrieges, fand das Sicherheitsinteresse der Sowjetunion endlich zeitweilige Anerkennung. Erst diese Dreier-Allianz hält neben der Sowjetunion auch Großbritannien im Spiel und bringt die USA als neuen Spieler auf das weltpolitische Parkett.
Offensichtlich hatte sich der Westen nur unter der Bedingung dieses verheerenden Krieges durchringen können, seine ostpolitische Strategie zu überdenken oder – um hier an eine bekannte Äußerung zu erinnern – in der Gestalt des Ostens die Frage der eigenen Sicherheit zu erkennen: unter dem Eindruck der globalpolitischen Auseinandersetzung des Zweiten Weltkriegs und später dem der nuklearen Gefahr im Kalten Krieg. Dieser Respekt war erst bedingt durch die eigene Bedrohung. Mit dem Untergang des Ostblocks meint der Westen offenbar, diesen Respekt nicht mehr schuldig zu sein. Das ist gefährlich, denn das nämlich könnte einem globalpolitischen Rückschritt auf eine Position von vor 1939 entsprechen, zwar ohne Hitler und auch ohne Stalin, aber dafür heute bei wechselseitiger nuklearer Bedrohung. Im Unterschied zu 1939 kaschiert der Westen jetzt das überlebenswichtige Eigeninteresse hinter einer Fassade der moralisierenden Weltmission. Nun will er der radikalere Bruder sein, unter dessen strafendem Blick der andere Partner visitiert und verurteilt werden kann. Litwinow, dessen Todestag sich am 31. Dezember zum siebzigsten Mal jährt, war in der Sowjetunion solches Revolutionsspektakel fremd. Er wusste wie Tschitscherin, dass man beim Säbelrasseln den Kopf verlieren kann – auch im übertragenen Sinn. Und für den Westen wird es heute allerhöchste Zeit, eine Selbstreflektion in den Blick zu nehmen.
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