Überlegungen zur Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts
von Bernd Murawski
Vergegenwärtigen wir uns die jeweiligen Interessenlagen. Diese sind einerseits durch Ziele und Ansprüche bestimmt, andererseits durch Schwierigkeiten bei deren Umsetzung. Die wesentlichen Streitpunkte bilden eine mögliche Ausbreitung der NATO auf ukrainisches Territorium und die Positionierung zu den abtrünnigen Gebieten im Osten des Landes und der Abspaltung der Krim.
Als weiteres Vorhaben nennt Moskau die Zurückdrängung des Einflusses der Nationalisten, während Kiew die Krim und die abtrünnigen Regionen in der Ostukraine zurückerobern und zugleich die russlandfreundlichen Bürger loswerden möchte. Beide Seiten werden diese Ziele wohl aufgeben müssen.
Sicherheitsbedürfnisse der Ukraine und Russlands
Die Ukraine strebt nicht deshalb in die NATO, um von ihrem Territorium aus Russland bedrohen zu können, sondern um Sicherheitsgarantien zu erlangen. Die russische Führung befürchtet hingegen eine Stationierung von Abschussrampen des westlichen Verteidigungsbündnisses nahe der Grenze. Die Gefahren beschreibt Hermann Ploppa wie folgt:
“Die kommende Bedrohung heißt: in Deutschland sind in dem Örtchen Büchel amerikanische Atombomben gelagert. Die werden jetzt gegen eine neue, wirkungsvollere Generation von Atombomben ausgetauscht. Diese Atombomben müssen ja auch irgendwie nach Russland geschossen werden. Dafür haben die USA neue Boden-Boden-Raketen des Dark Eagle-Systems entwickelt. Ein Dark Eagle-System besteht aus vier riesengroßen Lkws. Auf jedem Lkw sind zwei Boden-Boden-Raketen positioniert. Diese Raketen können die atomaren Sprengköpfe der Generation B61-12 in vierfacher Schallgeschwindigkeit in wenigen Minuten in russische Metropolen wie Moskau katapultieren. Der Zeitraum bis zum Einschlag in Russland wird noch dadurch verkürzt, dass diese Dark Eagle-Transporter immer an der russischen Grenze hin- und hergefahren werden. Es besteht also in Zukunft auch kein Zeitfenster mehr, in dem solche Erstschläge noch abgewendet werden könnten. Die russische Gegenseite kann in diesem Augenblick nur noch zum atomaren Gegenschlag ausholen.”
Der Hauptbetroffene auf westlicher Seite wäre zweifellos Mitteleuropa. Nicht nur steigt das Risiko eines atomaren Schlags aus Versehen oder durch Fehlinterpretation. Auch wäre für die US-Regierung die Schwelle niedriger als für ihre europäischen Verbündeten, einen Erstschlag zu wagen. Ploppa verweist darauf, dass derartige Planspiele bereits durchgeführt wurden. Aus Protest gegen die Erprobung solcher Szenarien hätte Bundeskanzler Helmut Kohl im Jahr 1987 die deutschen Streitkräfte aus einem NATO-Manöver abgezogen. Kurios erscheint der Tatbestand, dass Russlands Bemühungen, eine Stationierung von NATO-Militärgerät in der Ukraine zu verhindern, das Risiko einer atomaren Vernichtung Westeuropas senkt.
Gleichsam liegt es im Interesse der Ukraine, in einem Konflikt zwischen NATO und Russland nicht zur Zielscheibe russischer Atomraketen zu werden. Demnach dürfte die Kiewer Führung nicht abgeneigt sein, anstelle einer NATO-Mitgliedschaft eine andere Form von Schutz zu wählen, die eine vergleichbare Sicherheit bieten könnte. Tatsächlich hat Wladimir Selenskij bereits signalisiert, einer Neutralisierung seines Landes zuzustimmen, falls er ausreichende Sicherheitsgarantien erhält. Dies könnte die Bestätigung eines ukrainisch-russischen Vertragswerks durch den UN-Sicherheitsrat leisten, wodurch es Völkerrechtsrang erhalten würde.
Solch ein Abkommen müsste aus russischer Sicht sowohl eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als auch die Errichtung von Militäreinrichtungen und Stationierung von Truppen auf ihrem Territorium ausschließen. Ebenso dürfte nicht zugelassen werden, dass ausländische Befehlsstellen über den Einsatz ukrainischer Einheiten entscheiden, was im Kontext einer EU-Mitgliedschaft geschehen könnte. Es müsste eine entsprechende Veränderung der ukrainischen Verfassung vorgenommen werden, d. h. die Erwähnung des Strebens nach NATO-Mitgliedschaft müsste eliminiert und stattdessen ein Neutralitätsstatus verankert werden.
Die Aufgabe bereits verlorener Regionen
Kiewer Versuche einer Rückeroberung der abtrünnigen Donbass-Regionen schlugen bislang fehl, und eine “Reokkupation” der Krim wurde seit ihrer Übernahme in die Russische Föderation nicht einmal versucht. Darüber kann auch das im März letzten Jahres verabschiedete Dekret nicht hinwegtäuschen, mit dem der ukrainische Präsident beauftragt wurde, die “vorübergehende Besetzung” der Krim und des Donbass zu beenden.
Eine friedliche Lösung, wie sie im Minsker Vertrag im Jahr 2015 angestrebt wurde, scheiterte am Unwillen der ukrainischen Regierung, den abtrünnigen Regionen einen Autonomiestatus zu gewähren. Ebenso widersetzten sich deren Führer allen Bemühungen um eine Entspannung der Lage, wobei sie auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen konnten. Die nahezu acht Jahre andauernden Kriegshandlungen, der Entzug sozialer Leistungen wie auch vielfältige Schikanen haben die Bande zur Restukraine irreparabel zerstört.
Es ist ein unbestreitbares Faktum, dass sowohl die Krim als auch die abtrünnigen Gebiete der Ostukraine für Kiew endgültig verloren sind. Dabei dürfte seitens der ukrainischen Führung nicht einmal ein Interesse bestehen, sich eine widerspenstige Bevölkerung ins Land zu holen, deren Anteil etwa 15 Prozent ausmachen würde. Die Ablehnung der Autonomie für die Donbass-Regionen beruhte gerade auf der Befürchtung, dass diese als Brückenkopf für eine russische Einflussnahme gedient hätten. Gleichwohl sind die Versuche, durch Schläge gegen zivile Einrichtungen die Bürger in Scharen nach Russland zu treiben, nicht aufgegangen.
Jedoch kann die ukrainische Regierung die bereits verlorenen Regionen nicht offiziell abschreiben. Zunächst würde deren Aufgabe gegen die Verfassung verstoßen. Noch mehr Gewicht dürfte politischem Prestige und Selbstverständnis zukommen, zumal die politische Machtelite Kiews stark nationalistisch geprägt ist. Dabei ist sogar zweitrangig, ob die ostukrainischen “Volksrepubliken” nur die in Minsk II zugestandenen Gebiete oder das gesamte Territorium der Oblate umfassen.
Einen Ausweg würde der von Egon Bahr ins Gespräch gebrachte Vorschlag einer Unterscheidung zwischen de facto (Russland) und de jure (Ukraine) bieten, der sich seinerzeit auf die Krim bezog. Russland müsste die Rechtsposition der Ukraine anerkennen, die Ukraine hingegen den Status quo. Zugleich wäre die Durchführung von Plebisziten zu vereinbaren. Um ein klares Votum zu bekommen, könnte etwa eine Zustimmung von 75 Prozent – entweder für einen Verbleib bei der Ukraine oder für eine Abspaltung – verlangt werden. Wird dieser Zielwert nicht erreicht, könnte eine Wiederholung der Abstimmung alle fünf Jahre erfolgen. Im anderen Fall wird die Entscheidung als endgültig betrachtet, d. h. die Krim und die ostukrainischen Gebiete kehren entweder nach Kiew zurück oder die Krim wird offiziell ein Teil Russlands und die “Volksrepubliken” erhalten Selbständigkeit.
Im Interesse einer fairen Prozedur müsste Kiew die Gelegenheit erhalten, vor dem Plebiszit für die eigene Position bei den Bürgern zu werben, etwa mit Plakaten, Straßenaktionen und durch das regionale Fernsehen. Internationale Beobachter etwa der OSZE oder der Vereinten Nationen würden bei den Volksabstimmungen anwesend sein und deren Korrektheit bestätigen.
Schritte zur Entmilitarisierung
Russland würde in diesem Fall das Ziel aufgeben müssen, die nationalistischen Kräfte in der Ukraine zu entmachten und sie für ihre Taten gerichtlich zu belangen. Tatsächlich ist es der russischen Führung nach der militärischen Invasion weder gelungen, ukrainische Ansprechpartner zu finden, noch bei der Bevölkerung sichtbaren Zuspruch zu finden. Zwar dürften die Bürger kaum mit ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage zufrieden sein, die sich seit dem Regierungssturz im Zuge der Maidan-Ereignisse eher verschlechtert hat. Jedoch nicht einmal Zurückdrängung und Verbot der russischen Sprache haben dazu geführt, dass die Invasoren mit Begeisterung empfangen wurden.
Die von Kiew geschürte antirussische Stimmung mag daran ihren Anteil haben, wohl aber auch eine prinzipielle Ablehnung militärischen Engagements. Um die Sympathien der Bürger nicht zu verprellen, sieht sich Moskau aufgefordert, äußerst behutsam vorgehen und zivile Opfer zu vermeiden. Dies bremst den Vormarsch der russischen Einheiten erheblich und lässt vorausahnen, dass die Operation sich über Monate hinziehen wird.
Wenn es auf der einen Seite keine Sympathiebekundungen der Bürger gibt, so auf der Gegenseite nicht den erhofften massiven Widerstand. Dessen Schwäche beruht nach dem Militärexperten Bernd Biedermann zum großen Teil darauf, dass der russische Militärschlag zu Beginn der Invasion die zentralen Kommunikationsstrukturen der ukrainischen Seite zerstört hat. Da eine koordinierte Verteidigung nicht möglich ist, sind die Kampfeinheiten weitgehend auf sich gestellt. Dies hat nicht nur vielerorts zur Niederlegung der Waffen geführt, sondern macht die Lage überhaupt recht unübersichtlich. Eine Besonderheit des gegenwärtigen Kampfgeschehens ist nach Biedermann das Fehlen klarer Fronten.
Die Folgen der russischen Militäraktion sind schwer abzusehen. Einerseits könnte sich die Bevölkerung auf längere Sicht von der Kiewer Führung abwenden. Andererseits bildet sich ein Boden für Guerillatätigkeit, der durch die Ausgabe von Waffen an die Bürger und durch westliche Militärlieferungen angeheizt wird. Die Situation beinhaltet sowohl für Russland als auch für die Ukraine eine Vielzahl Risiken und Unwägbarkeiten, sodass es im Interesse beider Seiten liegen sollte, den Konflikt baldmöglichst zu beenden.
Zu vereinbaren wäre ein gleichzeitiger Rückzug der russischen Kräfte von ukrainischem Territorium und der ukrainischen Armee aus den ostukrainischen Oblaten, wo sie zu großen Teilen aus nationalistischen Bataillonen besteht. Darüber hinaus könnten entmilitarisierte Zonen entlang der russischen Grenze zur Ukraine und im Grenzgebiet zwischen der Ukraine und den abtrünnigen Regionen im Osten vereinbart werden. Schließlich sollte sich Russland bereit erklären, den durch die Ausschaltung der ukrainischen Abwehr verursachten finanziellen Schaden zu ersetzen. Von der ukrainischen Seite kann im Gegenzug erwartet werden, die Wasserzufuhr durch den Krim-Kanal nicht erneut zu unterbrechen.
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