EU und Ukraine sieben Jahre nach dem Euromaidan — RT DE
12 Dez. 2020 17:34 Uhr
von Wladislaw Sankin
Im September 2012 sprachen Die Zeit und der polnische Ex-Präsident Lech Waإ‚ؤ™sa über die Zukunft Europas. Waإ‚ؤ™sa schwärmte von einem vereinten Europa ohne Nationalstaaterei. Er war sich sicher, dass bald auch die Ukraine zum vereinten Europa gehört. Zu Perspektiven dieses Landes sagte er damals:
“Wir sollten der Ukraine sagen, dass sie das ganze Getreide für Europa produzieren kann – aber dafür keine Maschinen. Die Maschinen könnte Polen produzieren.”
Waإ‚ؤ™sa wusste, was er sagt. Er wurde als Gewerkschaftsführer bei den Danziger Schiffswerften berühmt. Nach dem Eintritt in die EU musste Polen auf die staatliche Unterstützung ihrer insgesamt drei Werften verzichten. Zwei gingen pleite, die einzig verbliebene Danziger Werft existiert noch, aber bereits 2012 stellte sie größtenteils eine Industrieruine dar. Den Maschinenbau durfte Polen in der EU behalten – auf polnischen Werken werden nun vor allem ausländische Marken zusammengeschraubt.
Doch trotz Verlustes von mehreren Industrien schaffte es Polen innerhalb der EU, eine wachsende Wirtschaft aufzubauen – nicht zuletzt auf Kosten der EU-Subventionen, die jährlich ca. elf Milliarden Euro betragen. Die Ukraine wollte dem wirtschaftlichen Abstieg entkommen und ein zweites Polen werden. Im Namen der EU beteiligten im Dezember 2013 polnische Politiker wie Jarosإ‚aw Kaczyإ„ski Seite an Seite mit der damaligen ukrainischen Opposition an den Demonstrationen des Euromaidan. Sie warben bei den Ukrainern für den EU-Beitritt ihres Landes: “Die EU braucht die Ukraine.”
Doch die damalige ukrainische Regierung wusste, dass das EU-Assoziierungsabkommen die endgültige Verwandlung der Ukraine vom einstigen industriellen Herzen der Sowjetunion in ein rohstofforientiertes Land bedeuten würde, und wollte weiter verhandeln. Wenige Monate später mussten viele ihrer Vertreter aus dem Land fliehen. Ihre Nachfolger, die “Revolutionäre” des Euromaidan, unterzeichneten das umstrittene Dokument sofort.
Alle fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens – als Teil des Gesamtdokuments – war die Kritik am Abkommen in der Ukraine nicht verstummt, denn nur wenige Verantwortliche wussten ja vor seiner Unterzeichnung genau, war es beinhaltet. Der wirtschaftliche Aufschwung blieb aus, im Gegenteil: Durch den Absturz der Griwna und die Erhöhung der Haushaltstarife sanken die Realeinkommen der Bürger drastisch.
Den Verlust des russischen Marktes, der u.a. auch die hochtechnologischen Zweige der ukrainischen Wirtschaft beansprucht hatte, konnte der EU-Markt nicht wettmachen. Dies war auch nicht vorgesehen. Der Handel mit den EU-Staaten, darunter auch Deutschland, ist zwar im Vergleich mit dem Jahr 2013 deutlich gestiegen. Innerhalb der Freihandelszone mit der EU dürfen ukrainische Produzenten jedoch nur Rohstoffe und Waren mit geringer Wertschöpfung liefern. Die Exporte der Ukraine nach Russland sind dagegen fast um das Fünffache zurückgegangen. Der entgangene Gewinn allein im Jahr 2019 wird auf 13 Milliarden Dollar geschätzt.
Die Corona-Krise wurde zur Stunde der Wahrheit. Der wirtschaftliche Rückgang traf die ukrainische Industrie hart, wobei der Maschinenbau besonders litt. Während im April die Industrie um 16 Prozent zurückging, fiel der Maschinenbau um fast 36 Prozent ab, sagte der ukrainische Ökonom Wiktor Straschewski. Das ukrainische Parlament Werchowna Rada wollte dem entgegentreten und brachte einen Gesetzentwurf über den öffentlichen Einkauf ein. Dieser sollte einen “Sinneswandel für die Stahlentwicklung und die Modernisierung der industriellen Tätigkeit” bewirken. Für die Ankurbelung der eigenen Industrie wollten die Abgeordneten die Anteile der inländischen Hersteller beim öffentlichen Einkauf auf 25 bis 40 Prozent erhöhen und damit in den nächsten drei Jahren bis zu 62.000 Arbeitsplätze schaffen.
Für die Begründung wiesen die Abgeordneten auf Ungleichgewicht hin, wonach die Einfuhrwaren beim öffentlichen Einkauf 38 Prozent betragen, während dieser in der Europäischen Union nur bei 7,9 Prozent und in den USA bei 4,6 Prozent. Beim Maschinenbau sei dieser Anteil mit 46,4 Prozent noch größer, schreibt das ukrainische Wirtschaftsportal delo.ua. Dass diese Ungleichheit unmittelbar mit der Annäherung an die EU in den letzten Jahren zu tun hat, zeigt folgende Statistik: So sank der Anteil der verarbeitenden Industrie am BIP der Ukraine in den Jahren 2012 bis 2019 von 17,6 Prozent auf 10,8 Prozent. Der Anteil des ukrainischen inländischen Maschinenbaus an den inländischen Exporten ging ebenfalls zurück – von 18,6 auf 10,7 Prozent.
Vor der Abstimmung im Juli wiesen die Vertreter der EU-Kommission den ukrainischen Premier und den Rada-Sprecher in einem Brief darauf hin, dass das Gesetz dem EU-Assoziierungsabkommen widerspreche. “Die Europäische Union erklärte die Unterstützung des ukrainischen Maschinenbaus für inakzeptabel”, titelten ukrainische Medien. Trotz der Kritik wurde der Gesetzentwurf in der ersten Lesung angenommen.
In der EU rief das Empörung hervor. Brüssel drohte damit, dass die europäischen Banken im Falle der Verabschiedung des Gesetzes die Kreditvergabe an ukrainische Unternehmen und Organisationen einstellen könnten. Der ukrainische Premier Denis Schmygal versprach, das Gesetz zu überarbeiten. Nun ist das Projekt gestoppt.
“Das Gesetz soll ganz vergessen werden. Der Text des Gesetzentwurfs ist gegen das Assoziierungsabkommen, gegen das Allgemeine Präferenzabkommen der WTO, soweit ich weiß, und gegen andere internationale Verpflichtungen der Ukraine. Unsere Botschaft in dieser Hinsicht ist sehr klar”, bekräftigte EU-Botschafter Matti Maasikas Ende September im Interview mit RBK-Ukraine.
“Wir sind kein Land der Eisenhütten mehr, wir sind ‘Maiskinder'” – diese bittere Feststellung stammt vom ukrainischen Wirtschaftswissenschaftler Alexei Kuschtsch. Bei den Exporten überwiegen bodenintensive Agrarprodukte mit einfachsten Verarbeitung wie Rapsöl oder Mais, wohingegen die Herstellung von Industrieprodukten mit hohem Verarbeitungsgrad und damit höherer Wertschöpfung zurückgehen. Selbst die einst stolze ukrainische Metallurgie verzeichnet einen Rückgang – die ukrainischen Eiseinerze gehen mittlerweile an chinesische und europäische Kunden und kurbeln dort deren Metallurgien an, schreibt Kuschtsch.
Diese Umorientierung der ukrainischen Wirtschaft hat dramatische sozialpolitische Folgen. Viele Experten befürchten, dass diese Entwicklung mittlerweile unumkehrbar ist und die Ukraine in ein archaisches Agrarland verwandelt. Und das Problem liegt nicht nur in der damit einhergehenden Verarmung der Bevölkerung. Man brauche enorme Investitionen in die neuen Industriestandorte, sagen Ökonomen. Stattdessen hängt das Land am Tropf des IWF. Die Lockerung jeder weiteren Tranche wird inzwischen als großer Erfolg gefeiert.
Laut EU-Dokumenten braucht die EU eine wohlhabende und keine arme Ukraine. “Durch ihre Europäische Nachbarschaftspolitik ist die EU bestrebt, starke, wohlhabende und für beide Seiten vorteilhafte Beziehungen zu ihren Partnern im Osten und Süden aufzubauen”, schreibt die Europäische Kommission auf ihrer Homepage.
Doch die Jahre nach dem Inkrafttreten des EU-Assoziierungsabkommens zeigen, dass die Entwicklung der Ukraine zu einem Rohstoffanhängsel trotz der wohlklingenden Verkündungen eines der Hauptziele des EU-Assoziierungsabkommens (AA) bleibt. Das geht indirekt auch aus dem aktuellen EU-Bericht zum Stand der Umsetzung des Abkommens hervor. Die EU-Kommission macht unmissverständlich klar:
“Die Ukraine muss noch ein Exportverbot für unbehandeltes Holz aufheben, das im Widerspruch zur Bestimmungen der von der AA eingerichteten tiefen und umfassenden Freihandelszone (DCFTA).”
Dafür lobt sie das Vorantreiben der in der Ukraine höchst umstrittenen Landreform – “trotz des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie”. Nach dem neuen Gesetz, das in zähen Verhandlungen in der Werchowana Rad mitten in der Corona-Krise verabschiedet wurde, darf ukrainischer Grund und Boden künftig auch an ausländische Käufer veräußert werden.
Quoten für Holz gehören zu den wenigen Posten, die auf Gesuch der Ukraine gesenkt werden – zum Missfallen der EU. “Die Holzverarbeitung brachte (im Jahr 2019) Exporterlöse in Höhe von 1,29 Milliarden US Dollar, aber wir mussten dafür mit den kahlen Karpaten bezahlen”, kommentierte Kuschtsch die Situation.
Wenn es darum geht, Reformbilanz zu ziehen, dann gehören die sozialen Auswirkungen der Reformen dazu. Doch die EU-Kommission schreibt kaum über die wirtschaftliche Lage der einfachen Bürger, über ständige Tariferhöhungen, niedrige Renten, Massenabwanderung und sonstige Probleme, denen Millionen ukrainischer Bürger tagtäglich begegnen. Dafür gibt es seitenlange Berichte über Bankenreform, Dezentralisierung, e-Governance, zahlreiche Antikorruptionsstrukturen usw. Diese werden angeblich von den Bürgern gefordert:
“Weitere konzertierte Anstrengungen werden auch in Bereichen wie Energie, Unternehmensführung staatseigener Unternehmen und in den Bereichen Justizreform und Rechtsstaatlichkeit im weiteren Sinne erforderlich sein, in denen bei den ukrainischen Bürgern eine klare Forderung nach Fortschritten besteht.”
“Die EU ist kein Wohltätigkeitsverein”
Der ehemalige kanadische Botschafter in der Ukraine Roman Waschtschuk brachte in einer Vorlesung auf den Punkt, in wessen Interesse diese und andere ähnliche Reformen in Wirklichkeit durchgeführt werden:
“Die ersten Regierungen nach dem Maidan in der Ukraine taten bis 2019 Dinge, die bei den einfachen Menschen unpopulär waren. Sie waren beliebt in Washington, im Finanzministerium in Ottawa, aber nicht in Christiniwka oder Melitopol. Was die ukrainische Wirtschaft aus unserer westlichen Sicht verbessert hat, wurde in der Ukraine oft als eine Katastrophe nach der anderen empfunden.”
Die Ukraine sei wie ein “Versuchskaninchen” für Experimente gewesen, die man im Westen aus dem einen oder anderen Grund nicht durchführen dürfte, fügte er hinzu. Als Mitglied aller Arbeitsgruppen zur Durchführung der Reformen war Waschtschuk Zeuge und Teilnehmer dieser “Experimente” zugleich.
Im Laufe der Jahre flossen immer mehr Gelder an die Ukraine – insgesamt ein Drittel mehr als ursprünglich geschätzt. In ihrem Bericht gab die EU-Kommission an, seit 2014 finanzielle Hilfen wie Zuschüssen und Darlehen von über 16,5 Milliarden Euroan die Ukraine gezahlt zu haben. Ursprünglich zugesagt gewesen seien 11,175 Milliarden Euro. Man erinnere sich an die konfuse Situation in September dieses Jahres, als der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borell dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij sagte, die EU sei kein Wohltätigkeitsverein und kein Geldautomat. Später wurde die peinliche Äußerung aus der amtlichen Mitteilung entfernt. Laut der EU-Kommission bekam die Ukraine größere Makrofinanzhilfen (MFA) als irgendein anderes EU-Partnerland – insgesamt 3,8 Mrd. Euro.
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