Unendlich vernagelt, trotz der Vergangenheit – Die Medienreaktionen auf Putins versأ¶hnlichen Essay — RT DE
Schauen wir uns – auch wenn es schwerfällt – möglichst nüchtern mal an, was letzte Woche in Deutschland passierte. Da veröffentlichte der russische Präsident höchstpersönlich exakt am 80. Jahrestag des deutschen Überfalles auf die Sowjetunion, der dieses Land fast 27 Millionen Tote kostete, im ehemaligen Flaggschiff der Entspannungspolitik einen Essay, dessen Titel bereits Versöhnungsbereitschaft signalisierte: “Offen sein, trotz der Vergangenheit“.
Putin verschont die Deutschen vor Details
Es lohnt sich, Putins Argumentation intensiver zu studieren. Schon im ersten Satz fällt auf, dass er die – auch im heutigen Russland in diesem Zusammenhang nach wie vor gebräuchliche – klassische sowjetische Wortwahl meidet und zugleich Deutschland weit entgegenkommt. Er spricht nicht vom “faschistischen Überfall”, sondern vom “Überfall der Nationalsozialisten” auf die UdSSR. (Die Formulierung vom “deutschen Überfall”, die nahegelegen und zu hundert Prozent zugetroffen hätte, vermeidet er.) Ebenso vermeidet der russische Präsident es, auf sämtliche schrecklichen Details dieses barbarischsten aller Kriege genauer einzugehen. Weder erwähnt er die genaue Anzahl der Opfer – er spricht zurückhaltend von “Dutzenden Millionen” –, noch zählt er die deutschen Verbrechen näher auf. Selbst das Wort “Vernichtungskrieg” nimmt er nicht in den Mund.
Mit ganzen drei knappen Sätzen geht er gnädig über die brutalsten Gräueltaten der deutschen Aggressoren hinweg: “Für das sowjetische Volk begann damit der Große Vaterländische Krieg, der blutigste in der Geschichte unseres Landes. Dutzende Millionen Menschen starben. Wirtschaft und Kultur trugen immense Schäden davon.” Man wird zugeben: Diskreter hätte Putin den Deutschen nicht entgegenkommen können!
Putin erwähnt im Folgenden, ebenfalls äußerst knapp, die Leistungen der Roten Armee bei der “Errettung Europas und der ganzen Welt vor der Versklavung”, wobei er – auch das nicht unbedingt der Mainstream des sowjetischen und russischen Narrativs – sich “dankend an die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition” erinnert sowie an “die Kämpfer der Résistance und die deutschen Antifaschisten, die den gemeinsamen Sieg näher brachten”.
Kurz: Insgesamt acht Sätze verwendet der russische Präsident in seinem Essay, um zwei Abschnitte lang auf die blutige Vergangenheit des Krieges gegen die Sowjetunion zu verweisen.
Kritik am Westen und Werben für eine neue Zusammenarbeit
Was nun folgt, lässt sich sachlich in drei Argumentationsschritte untergliedern: Putin erwähnt lobend die Leistungen der Völker Europas bei der Überwindung der Entfremdung und Rückkehr zu gegenseitigem Vertrauen und Respekt, um “einen Schlussstrich unter die europäischen Tragödien der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu ziehen”, wobei er explizit die historische Aussöhnung “zwischen unserem Volk” – er hätte auch “zwischen den Völkern der Sowjetunion” schreiben können – und “den Deutschen in Ost und West des inzwischen vereinten Deutschlands, die eine kolossale Rolle bei der Gestaltung eines solchen Europas spielte”, erwähnt. Anschließend beschreibt er aus seiner Sicht die Genese der neuen Spannungen in Europa, für die er in erster Linie die mittlerweile fünf NATO-Osterweiterungen verantwortlich macht. Des Weiteren beklagt der russische Präsident, viele Länder, vor allem die Ukraine, seien westlicherseits vor die künstliche Alternative gestellt worden, “entweder mit dem kollektiven Westen oder mit Russland zusammenzugehen”. Der Westen habe den Staatsstreich gegen Präsident Janukowitsch organisiert und somit “die Spaltung innerhalb der Ukraine und den Austritt der Krim aus dem ukrainischen Staat provoziert”.
All dies hindert Putin allerdings nicht – und dies ist das klar erkennbare Anliegen seines nicht zufällig am 80. Jahrestag des Überfalles veröffentlichten Textes –, im mehreren Anläufen “für ein faires und kreatives Zusammenwirken” zu plädieren: “Spannungen nehmen zu, das Risiko eines neuen Wettrüstens ist greifbar. Wir lassen uns enorme Möglichkeiten entgehen, die uns die Kooperation bietet.” Und hier greift er nochmals explizit eine Vision auf, die letztlich auf Michail Gorbatschow zurückgeht und die das postsowjetische Russland mehrfach – zuletzt durch den damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew im Juni 2008 – den Staaten Westeuropas unterbreitet hatte: “Dies unterstreicht auch unsere Anregung, einen gemeinsamen Kooperations- und Sicherheitsraum vom Atlantik bis hin zum Pazifik zu schaffen, der verschiedene Integrationsformate einschließen könnte, unter anderem die Europäische Union und die Eurasische Wirtschaftsunion.” (By the way: Allein die Formel von den “verschiedenen Intergrationsformaten” wäre geeignet, die politische Phantasie gutwilliger Kooperationspartner im Westen bei der Konzeption kreativer Lösungswege zu stimulieren!)
Und Putin endet versöhnlich – wer will, könnte hier sogar einige selbstkritische Untertöne ausfindig machen: “Wir können es uns einfach nicht leisten, die Last früherer Missverständnisse, Kränkungen, Konflikte und Fehler mit uns herumzuschleppen. Eine Last, die uns an der Lösung aktueller Probleme hindert. Wir sind überzeugt, dass wir alle diese Fehler einzuräumen und zu korrigieren haben. Unser gemeinsames und unstrittiges Ziel ist es, die Sicherheit des Kontinents ohne Trennlinien und einen einheitlichen Raum für eine gleichberechtigte Kooperation und kollektive Entwicklung im Sinne der Prosperität Europas und der ganzen Welt sicherzustellen.”
Mit diesem Plädoyer erweist sich Putin fast zwanzig Jahre nach seiner im Anschluss an 9/11 überwiegend auf Deutsch gehaltenen berühmten Rede im Bundestag, für die er damals Standing Ovations erntete – und allen aktuellen Spannungen zum Trotz – einmal mehr als ein russischer ‘Westler’, der nach wie vor Russlands Zukunft in einem (auf Augenhöhe) vereinten europäischen Raum sieht.
Das allein war auf dem Hintergrund eines drohenden neuen Kalten Krieges und des kontinuierlichen Russlandbashings der vergangenen Jahre eine Sensation, die eine ausführliche Rezeption und explizite Würdigung in den deutschen Medien verdient hätte. Wie aber reagierten die?
Lüge, Skandal, Heuler – Das Echo im Mainstream
Bereits die Zeit selbst hatte es sich, wohl aus Angst vor der eigenen Courage, nicht verkneifen können, Putins Text mit einer ausführlichen Anmerkung zu garnieren, die nicht nur ausführlichst die Genese der Veröffentlichung beschrieb, sondern in fürsorglicher Bevormundung dem als verwirrt antizipierten Leser gleich die korrekte (will sagen: westliche) Terminologie mitlieferte: Putins “Austritt” der Krim wurde prompt in “Völkerrechtsbruch” und “Annexion” korrigiert, wobei man es sich nicht nehmen ließ, der drohende Unterton war unüberhörbar, darauf hinzuweisen, dass sowohl die Bundesregierung als auch die EU wie – am wichtigsten! – alle Kommentatorinnen und Kommentatoren der Zeit sich dieser Terminologie bedienen würden. (Womit, nebenbei bemerkt, das Qualitätsmedium durchblicken ließ, wie viel es von seiner selbständig denkenden intellektuellen Leserschaft hält.) Außerdem wurden vorsorglich Entgegnungen auf diesen Text “in den kommenden Tagen und Wochen” angekündigt. Damit war der Grundton für die folgenden Reaktionen gesetzt.
Und natürlich ließ der nun fällige Shitstorm nicht lange auf sich warten.
Die schrille Reaktion der Bild-Zeitung noch am selben Tag war absehbar. Für den dortigen Politik-Chefreporter Peter Tiede war der Text “in Summe: eine Lüge” und dessen Abdruck in der Zeit – genau wie die (sic!) “Russen-Röhre”; gemeint war Nord Stream 2 – nichts weniger als “ein Skandal”. (Auf die weitere ‘Argumentation’ noch ernsthaft einzugehen – und sei es nur polemisch –, verbietet sich schon aus hygienischen Gründen.)
In das gleiche Horn, aber etwas raffinierter, stieß, ebenfalls noch am 22. Juni, Thomas Franke im Deutschlandfunk. Vermeintlich schlau bemühte Franke zunächst ein Zitat der Zeit-Gründerin Marion Gräfin Dönhoff, nach dem es das Wesen des Liberalismus sei, “abweichende Ideen nicht zu diffamieren und Kritik an Bestehendem nicht als Ketzerei zu verfolgen, sondern die Minderheiten zu schützen und Offenheit zum Gegensätzlichen zu praktizieren”, um postwendend den Joker aus der Tasche zu ziehen, dass es sich hier – Bild lässt grüßen – natürlich nicht um einen Meinungsbeitrag, sondern um einen “Propaganda-Artikel” handele, “so voller Lügen, dass es zu lange dauern würde, sie einzeln zu widerlegen”. Womit sich der gewiefte Autor in einem kühnen Rundumschlag der Mühe entzog, auch nur eine einzige von ihnen zu entkräften! Noch lukrativer als das Putin- erschien Franke offenbar – man bekommt allmählich Mitleid mit dem Qualitätsblatt – das Zeit-Bashing: “Mit Putin hat die ‘Zeit’ einem respektlosen Menschen, der systematisch gegen den Diskurs angeht und den Liberalismus für überholt hält, eine Plattform gegeben. Die Redaktion hat sich zum Handlanger des russischen Präsidenten gemacht.” Einen Tag später legte er im SWR2 noch mal nach: “Klar, es ist toll, Putin im Blatt zu haben. Das steigert die Auflagen. Doch man muss nicht alles drucken und schon gar nichts, was derart vergiftet ist.”
Dem Deutschlandfunk allerdings schien Frankes Kommentar wohl des Guten noch nicht genug zu sein, sodass Samira El Ouassil am selben Mittwoch noch alliterat von der “Desinformation eines Despoten” quasseln durfte, einem “verstörenden Signal”, dem “ein reichweitenstarkes, deutschsprachiges Wochenmagazin” Raum gegeben habe.
In der Süddeutschen gab sich dagegen ein Nils Minkmar am 23. Juni lakonisch. “Heuler” lautete schlicht die Überschrift über seinen Putin- und Zeit-Verriss. Ähnlich differenziert wie Franke argumentierend, postulierte Minkmar in origineller Rechtschreibung: “Zu so einem Artikel gehört in diesem Fall der Warnhinweis, das (sic!) hier lupenreine Propaganda enthalten ist.”
Die Opfer der ehemaligen Sowjetrepubliken gegeneinander ausspielen
Und noch am selben Tag – man will sich ja nicht lumpen lassen – folgte dann die erste der angekündigten “Entgegnungen” in der mittlerweile schwer gescholtenen Zeit. Den Reigen eröffnete der ehemalige polnische Verteidigungs- und Außenminister Radosإ‚aw Sikorski. Sikorski bediente sich gleich der im Westen mittlerweile sehr beliebten Argumentationstechnik, die ehemaligen, mittlerweile selbständig gewordenen Sowjetrepubliken und deren Opfer (nach dem Motto: “Bad Guy” Russland – “Good Guys” alle anderen Nachfolgestaaten) gegeneinander auszuspielen, die er zudem mit der ebenfalls beliebten Technik, der Gegenseite etwas zu unterstellen, was diese gar nicht gesagt hat, kombinierte: “Russland”, so Sikorski völlig zutreffend, “war nicht der Landesteil, der von Deutschland zuerst angegriffen wurde. Es waren die Gebiete der belarussischen und ukrainischen Sowjetrepublik”.
Wie hätte es angesichts der unbestreitbaren geografischen Verhältnisse auch anders sein können! Dummerweise hatte ihm Putin allerdings schon am Vortag einen Strich durch die polemische Rechnung gemacht. Der russische Präsident hatte nämlich schlicht geschrieben: “Vor genau 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfielen die Nationalsozialisten, nachdem sie ganz Europa erobert hatten, die UdSSR.” Kein Wort davon, dass sie zuerst Russland und dann erst die Ukraine oder Belarus angegriffen hätten! Ähnlich originell ging Sikorski mit den im Kaliningrader Oblast stationierten russischen Atomraketen um. Angeblich sollen sie Europa schon zur Zeit, als er Verteidigungsminister war, also zwischen 2005 und 2007, bedroht haben. Ebenfalls kein Wort davon, dass sie eine russische Abwehrmaßnahme gegen das u. a. in Polen stationierte, von Russland als Bedrohung empfundene westliche Raketen”abwehr”system darstellen.
Das finale Argument, das in diesem Zusammenhang erwartbar war, aber noch fehlte, durfte schließlich am 24. Juni, und gleichfalls in der Zeit, der längst transatlantisch gewendete Ex-Maoist und, zusammen mit seiner agilen Gattin, Leiter des – wer finanziert ihn eigentlich? – Thinktanks “Liberale Moderne”, der grüne Ralf Fücks liefern: Putins Plädoyer für ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok ziele, natürlich, darauf ab, “uns endlich von den USA abzukoppeln und die Westbindung gegen eine Allianz mit Moskau einzutauschen. Dafür gibt es in Deutschland seit jeher einen fruchtbaren Boden, von ganz links bis ganz rechts”. Ganz ähnlich hatte, im selben Qualitätsmedium, sechs Wochen zuvor bereits Fücks’ Ex-Genosse und Bruder im Geiste, der sensible Schöngeist Alan Posener getönt und der “kulturellen Linken” flott empfohlen, sich “von der Vorstellung zu lösen, der Frieden mit Russland um beinahe jeden Preis sei wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 eine moralische Pflicht”.
Vor 50 Jahren war man weiter
Allmählich fragt man sich ernsthaft, was der russische Präsident eigentlich noch tun kann, um in Deutschland erfolgreich für Vertrauen zu werben. Soll er sich vielleicht nochmals im Bundestag hinstellen und – am besten in deutscher Sprache – um Vergebung dafür bitten, dass die Wehrmacht im Sommer 1941 sein Land überfiel und dort drei Jahre später nur noch verbrannte Erde und 27 Millionen Tote hinterließ?
Eines steht jedenfalls fest: Viele Angebote in dieser Richtung wird es bald nicht mehr geben. Niemand verlangt von den deutschen Publizisten und Politikern, dass sie Putins Argumentation eins zu eins folgen. Der Skandal besteht nicht in der Kritik einzelner Passagen aus Putins Essay. Er besteht darin, dass alle versöhnlichen Sätze – genauer: das gesamte Grundanliegen des Textes – geflissentlich übersehen oder ungeprüft summarisch in den Bereich der Propaganda, gar der perfiden Lüge verwiesen werden.
Warum nimmt man nicht Putin einfach beim Wort und testet ihn? Von einem Tag auf den anderen, lieber Herr Fücks, würde Europa mit Sicherheit seine Allianzen nicht wechseln! Und gäbe es hier wirklich nur ein Entweder-oder?
Ende der Sechzigerjahre war man im Westen da weiter: Trotz des Einmarsches der Warschauer Pakt-Staaten – Polen war übrigens stramm mit von der Partie! – und der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings im Sommer 1968 starteten damals Männer wie Willy Brandt und Egon Bahr wenig später mutig ihre Entspannungspolitik, die Jahrzehnte später zur deutschen Vereinigung und zum Ende des (ersten) Kalten Krieges führte.
Der bedeutendste publizistische Verbündete dereinst war übrigens – die Zeit!
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